Was genau ist nicht richtig?
Im Handelsblatt wird das weitere Handeln der bayrischen Staatsregierung beschrieben, dort steht zweifelsfrei, dass es a) einen Brief an die Bundesregierung geben wird und b) je nach Antwort, weitere Optionen geprüft werden
Vorab sei mal für uns beide postuliert, dass wir das ganze Gutachten nicht gelesen haben und lesen werden, wir uns also nur auf Sekundärliteratur dazu in den Medien stützen können. Ehrlichkeit hilft manchmal.
Deine Aussage war doch: "das Gutachten [schreibt] dafür einfach zu deutlich davon [...], dass die derzeitige Einreisepraxis Grundgesetzwidrig ist". So wie ich einzelne Passagen und die mediale Aufarbeitung des Gutachtens verstehe, vertritt di Fabio die These, dass die gegenwärtige Aufnahmepraxis des Bundes die Länder so sehr überlastet (überlastet hat, überlasten wird), dass andere behördliche, medizinische, bildungspolitische, etc. Aufgaben nicht mehr erfüllt werden können. Unter Bezugnahme auf die sogenannte Bundestreue (siehe auch Klabauter) müsse der Bund also entweder die Aufnahmepraxis restriktiver gestalten (Grenzkontrolle/Abweisung an der Grenze bei illegalem Übertritt) oder zumindest andere Maßnahmen ergreifen, die es den Ländern erlauben, ihre Kernaufgaben in notwendigen Maße zu erfüllen.
Dazu kommt, wie du richtig sagst, di Fabio "der Auffassung wäre, dass in einer föderalen Verfassung die Außengrenzen von dem Bund geschützt werden müssen, ansonsten die staatliche Integrität bedroht wäre.
Das ist ein Interpretation der Verfassungsgrundlage, die bei di Fabio zu verfassungsrechtlichen Bedenken führt, jedoch nicht die Formulierung eines "deutlichen" (Zitat von dir) Gesetzesverstoßes, zu dem di Fabio zumal überhaupt keine Befugnis hat. Die Auffassung einer Einzelperson ist nicht gleichbedeutend mit der Feststellung eines Gesetzesverstoßes.
Denn ob der Bund seiner Pflicht, die Grenzen zu schützen, wirklich nicht nachkomme (die Bundespolizei IST im Einsatz und kontrolliert die Grenze, ist aber unterbesetzt und wendet bislang auch keine sofortige Abweisung bei illegalem Grenzübertritt an) ist und bleibt Auslegungssache. Der Grenzschutz ist eine Aufgabe des Bundes, das will niemand bestreiten: Wie umfassend der sein und welche Aufgaben damit konkret gemeint sein sollen, bleibt Auslegungssache, es sei denn man wird angegriffen.
Nur weil seit Jahren Tonnenweise Crystal über die bayrisch-tschechische Grenze geschmuggelt werden, würde keiner auf den Gedanken kommen, den Bund deshalb wegen Verletzung des Grenzschutzes medial oder praktisch anzuklagen. Will heißen: Festzustellen, wann ein "nicht ausreichender" (Auslegung!) Grenzschutz die Länder soweit belastet, dass sie ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen können, muss abgewägt werden. Recht funktioniert nicht so wie sich das der besorgte Bürger so vorstellt - das sage ich ebenso als Laie, Klabauter könnte hier einige nützliche Bemerkungen zu machen - "klare Vorschriften, klare Fälle, klare Handlungsmaxime". Praktisch wäre dann jeder (potenzielle) Flüchtling, der illegal nach Deutschland einreist, jeder getätigte Schmuggel, jede kriminelle Organisation, die transnational operiert, nach deiner Vorstellung bereits ein Fall für das Verfassungsgericht, weil der Bund seiner Hoheitspflicht und der Bundestreue nicht nachkomme.
Es gibt weder völlig unkontrollierte, noch völlig kontrollierte, da kontrollierbare Grenzen. Das kann kein Staat leisten, womit bei der Forderung nach "Bundestreue" auch immer bedacht werden muss, dass die Potentiale eines Staates, für sichere Grenzen zu sorgen, ebenfalls erschöpfbar sind und deshalb im GG auch kein Artikel zu finden ist, der festschreibt: "Ab dem X-ten Grenzübertritt eines illegalen Flüchtlings verletzt der Bund seine gesetzmäßigen Pflichten und die der Bundestreue" (die übrigens - wieder Laienwissen - "nur" ein Gewohnheitsrecht darstellt).
Die "derzeitige Einreisepraxis" kann nicht widrig sein, weil die "derzeitige Einreisepraxis" gar nicht im Grundgesetzt vorkommt. Man muss also, wie di Fabio das ordentlich und mit Bedachtsamkeit tut, Rechtskontexte (Bundestreue, Staatliche Integrität) finden, die aber für den konkreten Fall (Einreisepraxis) aber erst einmal ausgelegt, interpretiert und abgewägt werden müssen.
Zur Integrität noch: Traditionell ist damit eine territoriale gemeint, also die Unverletztlichkeit der eigenen Grenze nach außen. Wie gesagt, es bleibt da ein Interpretationsspielraum ob der Begriff der Integrität auch auf den jetzigen Fall, also die Rechtspraxis der Flüchtlingsaufnahme überhaupt anwendbar ist.
Das Totschlagargument ist übrigens ein anderes (finde ich ebenso widersinnig): Wenn der Bund einfach offene Grenzen proklamiert oder
erlässt (der Bund hat die
Hoheit über seine Grenze!), wäre das, was momentan "praktiziert" wird, sowieso rein rechtlich gesehen legal. - Wie gesagt, Blödsinn. Abgewogen.
Aber da liegt auch die Krux für die bayrische Staatsregierung: Der Bund wird sich wohl kaum oder nur sehr bedingt in einen Vorgang reinwurschteln (Bayern, hihi) lassen, der seinen konstituierenden Charakter
schlechthin darstellt: Die Hoheit über seine Außengrenze, also DAS Merkmal politischer Herrschaft schlechthin.
Aber so sind sie eben, die Bayern: Kein anderes Bundesland würde so eine Klatsche riskieren, die es geben wird, wenn ein Land es sich anmaßen wird, diese elementare, da nach außen und nach innen Legitimität konstituierende Hoheit in Frage zu stellen.
Ich freue mich schon auf bundesdeutsche Truppen vor München, solange man die Säbener Straße in Ruhe lässt. (Achtung Marek: Sarkasmus). Festzustellen bleibt, dass man seine Kompetenzen im München ziemlich überschätzt. Bayern hat eine Sonderrolle in der Flüchtlingsproblematik und meiner Ansicht nach auch Anspruch auf unterstützende Maßnahmen, die UNTER ANDEREM eine Ausweitung des Grenzschutzes, Finanzhilfen, Personal, generell Amtshilfe mit einschließen. Ob da eine Verfassungsklage der politische richtige Weg ist, bleibt anzuzweifeln.
Ich hoffe, deine weiteren Autoritätsargumente fallen in meine Ausführungen mit ein, ansonsten kann ich dir auch ein paar Zitate an den Kopf werfen, fragt sich, ob das unsere Diskussion hier vorran bringt. [/QUOTE]
Moralismus und Vergangenheitsbewältigung spielen zwar immer eine Rolle in der Politik, aber Frau Merkel stammt aus dem Osten, wo man das doch etwas "lockerer" und anders gehandhabt wurde als im Westen. Demographieprobleme gibt es natürlich zweifellos, aber da hätte man schon lange eine andere Familienpolitik fahren müssen, wenn man das tatsächlich angehen wollte. Wollte und will man also anscheinend nicht, aus welchen Gründen auch immer. Versteh das wer! Vielleicht gibts in 20 bis 30 Jahren eh eine Einheitsrente für alle. Fachkräftemangel und ähnliches würde ich auch verneinen. Das war eh schon immer Quatsch und nur der Arbeitgeberlobby geschuldet, die gerne 30-jährige Fachkräfte mit 10 Jahren Berufserfahrung fürs minimale Einstiegsgehalt haben möchte, mal etwas überspitzt formuliert. Es gibt genug Fachkräfte im Alter von 50+ die trotz unzähligen Bewerbungen, langjähriger Berufserfahrung keine Anstellung mehr bekommen und bis zum Renteneintrittsalter dann Sozialfälle sind. Außerdem stehen die "Chancen" gut, dass bald die nächste Stufe der Weltwirtschaftskrise kommt (u. a. durch China Einbruch ausgelöst) und da hat sich das mit tollem Handel und Kreditgeschäft eh erledigt.
So, um da mal Ordnung reinzubringen:
These 1: Moralismus und Vergangheitsbewältigung spielen in der Politik eine große Rolle. Die Frage ist, was Merkel momentan antreibt, weil wir beide annehmen, dass das wohl nicht alles sein kann.
These 2: Das Demographieproblem stellen wir beide fest. Du machst das an einer gescheiterten Familienpolitik fest, die nicht genügend deutsche Kinder erzeugt (daher wohl deine ?Sympathie? für Sarazzin). Kann auch einfach daran liegen, dass die klassische bürgerliche Familie nicht mehr zeitgemäß ist, weil sich Rollenbilder durch ökonomische Entwicklung verändert und damit individuelle Lebensentwürfe geändert haben. Ich glaube kaum, dass sich einheimische deutsche Familien nicht zum Kinderkriegen herumreißen lassen, weil ihnen familienpolitische Anreize fehlen. Die steuerliche Förderung der Familie ist zudem in Deutschland immer noch gesetzlich verankert und sorgt für die höchsten Transferleistungen weltweit. Die Kinderbetreuung ist bisweilen etwas marode, da dürfte man durchaus investieren.
These 3: Der Fachkräftemangel sei eine Lüge, weil er darauf zurückzuführen wäre, dass Unternehmen sich nicht mit geringeren Standards zufrieden geben. Komische Vorstellung von Unternehmen, die eine Zweck und Zielbestimmung zu erfüllen hätten, für volkswirtschaftlichen Ausgleich zu sorgen und der Bevölkerung ein angenehmes und ausreichendes Leben in Brot und Arbeit zu ermöglichen.
Du vergisst, dass es eine notwendige und natürliche Entwicklung einer warenproduzierenden Gesellschaft ist, Arbeit zu rationalisieren und um möglichst gut ausgebildete, das heißt möglichst gut
verwertbare Arbeitskräfte zu
konkurrieren.
These 4: Die Bedienung der allseits bekannten und gebetsmühlenartig wiederholten Weltuntergangszenarien der Besorgten. Okay, bleibt nur die Frage, was das mit meiner implizierten These, dass der deutsche Markt dringend neue Arbeitskräfte braucht, die die Wirtschaftsmacht Deutschland benötigt, um erfolgreich auf dem Weltmarkt konkurrieren zu können und der Wachstumsmaxime gerecht zu werden, zu tun hat.
Was gibt es denn Besseres für den deutschen (und alle anderen) Arbeitgeber, als dass möglichst viele neue (potenzielle!) Arbeitskräfte ins Land "strömen", die die Konkurrenz um die möglichst billig gehaltene Arbeitskraft befeuern?
Das ist doch genau der Punkt, an dem die "Besorgten" hellhörig und "wachsam" werden, weil dem deutschen Michel die Arbeitsplätze weggenommen werden (könnten). Genauso ist es doch auch! Das ist das Motiv, warum die "Arbeitgeberlobby", das was momentan unter "Aufnahmepraxis" zusammengefasst wird, nur begrüßen kann. Viel neues verwertbares Humankapital, welches dem Unterbietungswettbewerb in Lohn und dem Überbietungswettbewerb um gute Ausbildung, also die wesentlichen Strukturmerkmale unserer Ökonomie, bedienen kann.
Man ist doch völlig auf dem falschen Dampfer, wenn man die Aufnahmepraxis tatsächlich für moralisch gut heißt, doch es die logische Entwicklung der Globalisierung, in der das deutsche Kapital sich zu behaupten sucht.
Es wäre begrüßenswert, wenn der "Strom" aufhören würde, aber eben NICHT aus Hegung von Ressentiments und einem falsch verstandenen Einheitsgefühl, der sich im Volksbegriff absurdisiert und schon gar nicht ohne eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der ökonomischen Organisationsform, die national in Verteilungswettkämpfen (mit oder ohne Flüchtlinge) und international in mehr oder weniger zwangsbedingten (Krieg, Perspeketivlosigkeit) Migrationsbewegungen mündet.
Solange wir uns nicht dieser zivilisationskritischen Debatte nicht stellen und die "Lösung" der Flüchtlingsproblematik darin besteht, die Leute einfach wieder in Krieg und Unterdrückung zurück zu schicken, sollte man schon die moralische Schiene fahren und etwaige Gutachten wie die von di Fabio konstruktiv in Frage stellen. Wirklich emanzipatorisch und progressiv ist das jedoch freilich nicht. Das böse K-Wort nehme ich mal nicht in den Mund, political correctness und so.