Neues Wahlrecht

Das BVerfG urteilte am 25.7.2012 folgender Maßen über das Wahlrecht

Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts und verletzt deshalb die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien.

a) In dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sind Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWG) nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt.
b) Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke verletzt.

Leitsätze

zum Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012


Damit muss das erst vor kurzem beschlossene Wahlgesetz wieder geändert werden.

Was sagt ihr zum Urteil?


Ich pers. verstehe einige Dinge nicht und würde mich über Erklärungen freuen

- Den genauen Ablauf der zum negativen Stimmeffekt führt
- Der Grund der Notwendigkeit der Überhangsmandate
- Führen Überhangsmandate immer zu einen (möglichen) negativen Stimmeffekt
- Kann ein negativer Stimmeffekt überhaupt rechtmäßig sein, unabhängig wie groß die Auswirkung ist.
- Wieso urteilte das BVerfG damals 4:4 für verfassungskonform
- Wieso hat sich die Anzahl der Überhangsmandate erhöht
- Was für eine Mehrheit braucht man wo um das BWG zu ändern?
 

simpsons3

Gast
Also, deine Fragen sind relativ einfach zu klären, zuerst mal das Wahlsystem im Groben erklären:

Du hast zwei Stimmen: Direktstimme (Erststimme) und Listenstimme (Zweitstimme). Mit der Erststimme wählst du für deinen Wahlkreis (es gibt 299 Wahlkreise in Deutschland) einen Kandidaten, in den BTag kommt, wer in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt (sog. Mehrheitswahlrecht). Mit der Zweitstimme wählst du eine Partei, die Mandate werden entsprechend der Zweitstimmenergebnisse verteilt (also nach Verhältniswahlrecht). Wer auf der Liste weiter oben steht, hat eine größere Chance, in den Bundestag zu kommen (ganz oben steht der sog. Spitzenkandidat).

Zum negativen Stimmgewicht kommt es, weil nicht jede Partei bundesweit eine Liste hat (das wäre zu einfach), sondern für jedes Bundesland eine Liste erstellt wird. Zuerst wird ausgerechnet, wie viele Bundestagssitze jedes Land zu bekommen hat und dann werden die Landesmandate auf die Zweitstimmenergebnisse der Partei verteilt. Aber über bundesweite Verrechnung der Listen (kompliziertes Verfahren, da blickt kaum einer wirklich durch) kann es sein, dass mehr Stimmen in einem Land dazu führen können, dass die Partei weniger Leute von der Landesliste eines anderen Landes einsetzen kann.

Wie Überhangmandate entstehen, ist einfach: Eine Partei bekommt nur 20 Sitze nach Zweitstimmen, hat aber 22 Direktkandidaten, die in ihren Wahlkreisen gewonnen haben. Die übrigen zwei Leute dürfen auch in den Bundestag, und die 2 Leute sind dann die Überhangmandate. Wenn einer von den ersten 20 ausfällt (z. B. durch Rücktritt oder Tod), dann rückt ein anderer von der Liste nach, fällt aber einer von den 2 Überhangmandaten weg, dann bleibt der Platz leer.
Das betrifft in der Vergangenheit vor allem SPD und Union, alle anderen Parteien haben weniger Direktmandate als Zweitstimmenmandate. 2009 gab es 24 Überhangmandate, alle für die CDU/CSU. 2 Leute sind ausgeschieden, daher gibt es z. Zt. 22 Überhangmandate.

Überhangmandate müssen mEn nicht immer zum negativen Stimmgewicht führen. Am Einfachsten wäre es, die Landeslisten abzuschaffen und Bundeslisten einzuführen.

Ein negatives Stimmgewicht ist immer verfassungswidrig: Wahlen müssen gleich sein (sog. Zählwertgleichheit), d. h. mehr Wähler müssen zu mehr Mandaten führen. Das negative Stimmgewicht führt aber genau zum Gegenteil: Insgesamt mehr Stimmen können zu weniger Mandaten führen. Ob es dabei jetzt um 1 Mandat oder um 100 Mandate geht, ist egal. Wenn die theoretische Chance besteht, dass es eine Auswirkung des negativen Stimmgewichts führt (egal, ob das in der Praxis schonmal vorgekommen ist), dann ist das Wahlrecht verfassungswidrig.

Das BVerfG hat einstimmig für die Verfassungswidrigkeit plädiert. Was "damals" sein soll, musst du näher beschreiben.

Die Anzahl der Überhangmandate hat sich in der Vergangenheit immer wieder erhöht, warum das so ist, weiß ich nicht. Interessant ist aber - und das ist vermutlich auch der Grund dafür - dass immer mehr Leute kleine Parteien wählen, die keine Direktmandate ergattern. So sinken die Anzahl der Zweitstimmenmandate der Volksparteien, die Anzahl derer Direktkandidaten bleibt aber etwa gleich.

Das BWahlG kann man ändern, indem der Bundestag mehrheitlich zustimmt, wie bei einem normalen Gesetz.


Meine Meinung zum Urteil:
Es ist traurig, dass man als Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg bringt, das darauf ausgelegt ist, bei der nächsten Wahl die eigenen Wahlergebnisse zu stützen. Es ist auch traurig, dass das Hauptproblem des BVerfG lt. Urteil von 2008 in der "Reform" nicht beseitigt wird - das negative Stimmgewicht. Es ist eine Schande, dass die Frist, die das BVerfG für die Reform gesetzt hatte, deutlich überzogen wurde.
Mich hat überrascht, dass das BVerfG - anders als 2008 - die Regelungen für Nichtig erklärt hat und im konkreten Fall sogar seine Chaostheorie aus dem Urteil zur Sicherungsverwahrung (Az. BVerfG, 2 BvR 2365/09 vom 4.5.2011, RdNr. 168) ignoriert - oder bewusst verworfen? - hat.
Die Entscheidung vom Mittwoch ist daher sehr relevant - auch zugunsten der Bundesregierung: Die schwächelnde Koalition hat jetzt de facto Bestandsgarantie, sind Neuwahlen nun doch ohne gesetzliche Grundlage und somit nicht durchführbar.

Ich finde - zum einen aufgrund der Erfahrungen mit dem Wahlrecht, zum anderen aufgrund der zentralen Bedeutung des BWahlG -, dass man so ein zentrales Gesetz nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit ändern können sollte.
 
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simpsons3

Gast
Das ist ne Entscheidung von 1997. Ich hab keinen verfickten Schimmer, warum man damals so geurteilt hat, wie geurteilt wurde. Ist aber auch egal für die heutige Diskussion, damals gab es ganz andere Grundlagen: Das BWahlG war ziemlich anders, die Situation (Beitritt der neuen Bundesländer) war eine ganz andere und schließlich war auch der Entscheidungsgegenstand nicht identisch: Am Mittwoch gings vorrangig um das negative Stimmgewicht, 1997 vor allem um die Überhangmandate. Wichtig ist nur: Das BVerfG hat es so für Recht befunden, wie es für Recht befunden wurde.
 

chris123455

Gast
Mein Vorschlag wäre es, Erst und Zweitstimme in ihrer jetztigen Funktion beizubehalten, aber die Größe des Bundestags variabel zu gestalten. Die Erststimmen derjenigen Partei, die die meisten Direktkandidaten pro Zweitstimme erhalten hat, entsprechen 50% ihrer Sitze. Über den Anteil der Zweitstimmen kann man so die Größe des neuen Bundestags bestimmen. Die verbliebenen Sitze bekommen zuerst die restlichen Direktkandidaten, die übrigen Sitze werden an Hand des Zweitstimmenanteils unter den anderen Parteien aufgeteilt.

Bsp um das System zu verdeutlichen:
Partei A: 130 Direktmandate, 38%
Partei B: 140 Direktmandate, 34 %
Partei C: 25 Direktmandate, 12%
Partei D: 4 Direktmandate, 7%
Partei E: 0 Direktmandate, 6%
(3% ungültig o. sonstiges).

Partei B erhielt die meisten Direktmandate pro Zweitstimmen (140 / 34%).
Partei B erhält also 140 (Direktmandate) + 140 (Landeslisten) Abgeordnete (also insgesamt 280). Diese 280 Abgeordneten entsprechen 34% des gesamten Bundestags. (280 = 34% --> 100% = 824 Abgeordnete).
Partei A erhält 38% dieser Sitze (also 313). --> 130 Direktmandate und 183 x Landeslisten
Partei C erhält 12% dieser Sitze (also 98). --> 25 Direktmandate und 73x Landeslisten
Partei D erhält 7% dieser Sitze (also 57). --> 4 Direktmandate und 53x Landeslisten
Partei E erhält 6% dieser Sitze (also 49). --> 0 Direktmandate und 49x Landeslisten

Nun hat Partei A 313 Sitze, Partei B 280 Partei C 98, Partei D 53 und Partei E 49.
Insgesamt sind dies 793 Sitze.
Die restlichen 31 Sitze werden nach dem Hare- Niemayerverfahren aufgeteilt. Evtl. könnte man sogar darüber nachdenken, hier die 5% Hürde aufzuheben und kleinen Parteien mit bspw. 1,2% hier einzubeziehen (um diese 1,2% der Wähler nicht zu vergessen).
Parteilose Direktmandate werden vorher von den übrigen Sitzen subtrahiert (hier nicht der Fall, wenn aber schon, würden bspw. nur 30 Sitze verteilt werden.)

Mit diesem Verfahren werden sowohl Überhangmandate verhindert, als auch das negative Stimmgewicht.
Direktmandate ermöglichen eine Vertretung aus jedem Wahlkreis, der Anteil der Sitze entspricht dennoch genau dem Zweitstimmenanteil
--> maximal Fairness.
Es kann keine Überhangmandate geben, weil die Größe durch die Partei mit den meisten Direktmandaten / Stimmenanteil bestimmt wird.

Wenn dieser Bundestag als zu groß empfunden wird, kann man natürlich den Prozentsatz den Direktmandate an den Gesamtsitzen in meinem Vorschlag ausmacht ändern. (Bspw. Die Direktmandate entsprechen 75% der Gesamt sitzen, so wäre in dem oben genannten Bsp. der Bundestag nur 549 Sitze groß, Partei B hätte nur 186 Sitze usw.)

Diese Berechnung ist transparent und sollte selbst von Hauptschülern, die den Dreisatz beherschen nachvollziehbar sein, ist also mMn nicht zu kompliziert.

Wie findet ihr diesen Vorschlag? Was würdet ihr ändern? Konstruktive Kritik ist erwünscht!

Ihr könnt das ganze auch mal für die letzten Wahlen durchrechnen, bei 75% bleibt die Größe in etwa vorhanden, aber die Sitzverteilung entspricht den Anforderungen d. BVG
 

simpsons3

Gast
Mein Vorschlag wäre es, Erst und Zweitstimme in ihrer jetztigen Funktion beizubehalten, aber die Größe des Bundestags variabel zu gestalten. Die Erststimmen derjenigen Partei, die die meisten Direktkandidaten pro Zweitstimme erhalten hat, entsprechen 50% ihrer Sitze. Über den Anteil der Zweitstimmen kann man so die Größe des neuen Bundestags bestimmen. Die verbliebenen Sitze bekommen zuerst die restlichen Direktkandidaten, die übrigen Sitze werden an Hand des Zweitstimmenanteils unter den anderen Parteien aufgeteilt.

Klingt auf den ersten Blick ziemlich ähnlich dem aktuellen Wahlrecht, würde auch Überhangmandate nicht verhindern. Die einzige Variable, die du änderst - ironischerweise auch das größte Problem mit dem aktuellen Wahlrecht -, wäre die Landesbindung der Listen.

Auf den zweiten Blick - das zeigt auch deine Beispielberechnung - ist es tatsächlich ein interessanter Ansatz, aber er würde den Bundestag unnötig aufblähen. Niemand braucht 800 + x Bundestagsabgeordneten.


Ich würde mir das Wahlrecht ungefähr so vorstellen:
Es gibt eine gesetzliche Anzahl von Bundestagsabgeordneten, z. B. genau 500 (im Moment sinds mindestens 598, der aktuelle Bundestag hat atm 620). Über die Direktmandate wird die Hälfte gewählt, die andere Hälfte wird über Verhältniswahlrecht gewählt, die Listen sind immer Bundeslisten (für die Mitwirkung der Länder in der Bundespolitik gibt es schon die Direktmandate und den Bundesrat). Jeder darf sowohl im Wahlkreis als auch auf der Liste kandidieren (selbstverständlich auch nur für eines, je nachdem was der Kandidat und die Partei wollen), wenn aber jemand schon als Direktkandidat gewählt wird, dann wird er von der Liste gestrichen, die darunterstehenden Kandidaten rücken entsprechend nach. Möglichkeit 2 wäre, dass man in zwei Wahlgängen wählt, die zeitlich voneinander getrennt sind (z. B. mit einem Monat Abstand oder so): WG 1 wählt den Direktkandidaten, nach Feststellung der Ergebnisse wird eine Liste aufgestellt, die dann in WG 2 gewählt wird. Halte ich aber für bedenklich und bin ich auch dagegen.
 

chris123455

Gast
Das Problem hierbei ist, dass dein System die großen Parteien mMn zu deutlich bevorzugt. Kleinere Parteien bekommen selten Direktmandate. Die beiden großen Parteien SPD u. CSU sind also fast allein in einer Hälfte des Bundestags vertreten. Wenn die andere Häfte nun über Verhältniswahlrecht gewählt wird, so sind Parteien (Grüne, Linke, Piraten evtl. FDP) also nur zu etwa der Hälfte des tatsächlichen Wählerwillens im Bundestag vertreten während SPD/CDU es Recht einfach hätten die absolute Mehrheit zu erreichen.
Rechne deinen Vorschlag einfach mal mit dem letzten Wahlergebnis (600 statt 500 Sitzen, da 299 Wahlkreise) durch und vergleiche die Sitzverteilung. Diese spiegelt mMn. nicht mehr den Wählerwillen wieder und macht eine echte Opposition im Parlament bzw. einen Wechsel fast unmöglich, da die "Nicht-Volksparteien" nur die hälfte der Sitze haben, die Ihnen zustünden.

Die Idee einer Bundesliste finde ich hingegen nicht schlecht, da sie wirklich beide Probleme lösen kann. Schade das ich darauf nicht bekommen bin.
Was hälst du/haltet ihr davon, sie in meinen Vorschlag zu integrieren (Bundes- statt Landeslisten, sonst wie bereits erläutert.)

Zu deinem Einwand mit dem aufgeblähten Parlament habe ich bereits in meinem ersten Beitrag geschrieben, dass man den Faktor statt 50% auch auf 75% setzen kann. Theoretisch könnte man es auch so regelen, dass dieser Faktor standardmäßig 50% beträgt und immer, wenn der Bundestag größer als bspw. 600 oder 500 Abgeordnete werden würde, um bspw. 5% erhöht wird.

Wie Überhangmandate bei diesem System entstehen können musst du mir erst noch erkären, weil die Anzahl der Sitze einer Partei von den Direktmandaten abhängt. Da bei der Partei die die mesiten Direktmandate / Zweitstimmen hat begonnen wird, hat betragen die Direktmandate jeder Partei an der Gesamtzahl der Sitze den oben diskutierten Faktor (bei der genannten Partei) bzw. ein niedrigeren (bei allen anderen Parteien). (Ergo kann es nicht sein, dass eine Partei mehr Diektmandate als Sitze laut Zweitstimmen haben kann :/)
 
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