Ich habe mir die Sendung sozusagen "live" am Donnerstag in ZDFNeo angeschaut (sie wird Mittwochs produziert) und mir war relativ schnell klar, dass Böhmermann da einen Schritt zu weit gegangen ist. Ich war enttäuscht.
Das "Gedicht" hat meiner Ansicht (das ist Interpretationssache) wenig mit Satire oder einem Spaßbeitrag zu tun, sondern beleidigt und denunziert Erdogan auf böswillige Weise. Den Tatbestand der Beleidigung gibt es im deutschen Strafrecht und von daher sind die Anzeigen hierzulande von Privatpersonen und die Anzeige von Erdogan unter Berufung auf Artikel 103 StGB auch berechtigt. Ob der Artikel zeitgemäß ist, ist eine andere Frage. Es scheint wohl so, als würde man in der Türkei das deutsche Strafrecht besser kennen als so mancher Jurist hier.
Vergleicht man besagtes "Schmähgedicht" mit vorangegangenen Beiträgen von Böhmermann oder dem NDR über Erdogan unterscheidet sich das doch wirklich erheblich voneinander.
Was mich am meisten stört, ist dass durch dieses ganze Theater nun ein andere exzellenter Beitrag aus der selben Sendung (
https://www.youtube.com/watch?v=HMQkV5cTuoY) weniger Berichterstattung erhält, als er verdient.
Mich wundert sowieso, dass die Verantwortlichen beim ZDF und ZDFneo den Beitrag nicht unterbunden/rausgeschnitten haben, denn das dieser hierzulande und in der Türkei vor dem Hintergrund der immer intensiver werdenden diplomatischen Zusammenarbeit mit der Türkei und der Flüchtlingskrise, die ohne ein energisches Handeln der Türkei nunmal nicht bewältigt werden kann, allzu hohe Wellen schlagen wird, war doch abzusehen.
Wir haben es hier wieder mit einem Balanceakt zwischen Kunst-und Meinungsfreiheit und Verletzung der Persönlichkeit zu tun, dem sich der öffentliche Diskurs, die Politik und die Justiz nun anzunehmen haben. Da wir hier ja sowieso gerade eine allgemeine Diskussion über das Verhältnis von Politik und Medien führen, bleibt noch einmal festzuhalten, dass auch ein demokratischer Rechtsstaat nicht jegliche Form der Meinungsäußerung zu dulden und zu tolerieren hat, nämlich eben dann, wenn Würde und Persönlichkeitsrechte (also immaterielle Rechte) verletzt werden. Leute wie Boss oder Marek sehen darin dann tatsächlich eine systematische Instrumentalisierung dieses Balanceaktes zugunsten und zum Zwecke der Regierungsloyalität und der regierenden politischen Positionen, was sich aber aber eben nicht feststellen lässt.
Das Problem in Deutschland ist, dass Satire hierzulande eine ordentlich-analytische, elaborierte Kritik längst abgelöst hat. Die Leute schauen sich die Heute-Show oder eben den Böhmermann an und nutzen diese zur politischen Information und zum politischen Urteil, was eine Zweckentfremdung der Satire darstellt. Den ganzen Zirkus gäbe es jetzt nicht, wenn man verstehen würde, dass eine satirische Aussage nicht eins zu eins in eine politische Information oder ein Urteil übersetzt werden kann.
Böhmermann, den ich sehr schätze, müsste sich diesem Umstand eigentlich bewusst sein: Er konstruiert seine Beiträge und Lieder doch eigentlich immer zweideutigig, interpretativ und subversiv (siehe z.B. Varoufake, "Ich hab Polizei"). Das ist eine hohe Kunst - leider hat er das bei _diesem Beitrag_ vermissen lassen. Das war einfach allzu direkt blöde und böswillig.
Die Kunstfreiheit ist ein hohes Gut, und wir tun gut daran, diese Errungenschaft in den westlichen Demokratien zu würdigen. Nur - und das soll auch Kernthese meines Beitrages sein, täten die Medien, die Politik und die Justiz gut daran, krass verletzende und Personen oder Gruppen herabwürdigende Beiträge (man schaue sich nur mal diese ganze unwürdige Rap-!§#$%&? an) schärfer zu verurteilen. Das vergiftet den öffentlichen Diskurs und hat einen verheerenden polarisierenden Effekt.
Nun spreche ich bewusst von einer "Verurteilung", womit nicht unbedingt eine rechtliche Sanktion gemeint sein muss. Das würde wiederum zu weit führen, denn wird Böhmermann rechtlich zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt, dann müsste konsequenterweise bei viel mehr künstlerischen Beiträgen, seien es nun Rap-Songs oder Satiresendungen genauer hingeschaut werden, was bei der Fülle an Veröffentlichungen kaum zu bewältigen ist. Ein politisches Statement oder ein
grundsätzliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich allgemein mit dem Thema und nicht ausschließlich mit Böhmermann befasst, wäre zu wünschen.
Mein Text ist nicht besonders gut geschrieben und für manche Leser wohl auch erschreckend konstruktivistisch - eigentlich wollte selbst so eine grundsätzliche Einschätzung schreiben, wie ich sie vom Verfassungsgericht wünsche, aber das klappt grad nicht so gut. Ich hols dann im anderen Thread nach, denn dort ist die Thematik ja eigentlich dieselbe: Welche Funktionen erfüllen Medien in einem demokratischen System? Auf welcher Grundlage wird die Thematik ausgewählt und wer ist dafür verantwortlich? Was können Medien leisten und was nicht? Wie sind Politik-Medien und Justiz mtieinander vernetzt und wie weit sollte so eine Vernetzung gehen (Völlige Freiheit versus Beschränkungen u.a in der Auswahl der Themen, der Wahl der Sprache usw.)?