Zu 1.: Eine Bindung der Bürger an das Grundgesetz zu bejahen ist aus mehreren Gründen problematisch: Wir kennen beispielsweise das StGB, welches für den Laien relativ einfach zu verstehende Verhaltensge- und -verbote beinhaltet ("Töte nicht!", "Misshandle nicht!", "Betrüge nicht!", "Beleidige nicht!", etc.), wohingegen das Grundgesetz das genaue Gegenteil darstellt (Ausnahme: Art. 9 II GG): Es ist auslegungsbedürftig und ein Laie müsste Prinzipien wie das der praktischen Konkordanz (Beispiel: Die Kunstfreiheit - Art. 5 III 1 GG - ist schrankenlos gewährleistet, wieso könnte Böhmermann nun also für Satire verurteilt werden? -> Erdogans Allgemeines Persönlichkeitsrecht steht der Kunstfreiheit entgegen und hat ebenfalls Verfassungsrang -> ein Gericht muss die beiden Grundrechte gegeneinander abwägen und damit die sog. "praktische Konkordanz" zwischen den Verfassungsgütern herstellen).
Selbstverständlich gibt es aber eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, Gegenteiliges wollte ich mit dem Verneinen einer "Bindung" der Bürger ans Grundgesetz auch nicht zum Ausdruck bringen. Diese äußert sich bei unbestimmten, auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen, bei welchen das Grundgesetz Auslegungsmaßstab ist. Der Grund hierfür ist aber nicht, weil das GG beispielsweise im Privatrecht (also bei Bürger-Bürger-Beziehungen wie Verträgen, Stellvertretung, Erbfällen, etc.) gilt, sondern weil die unbestimmten Rechtsbegriffe von den Gerichten ausgelegt werden müssen, deren Richter gemäß Art. 1 III GG direkt ans Grundgesetz gebunden sind. Wenn diesen demnach ein unbestimmter Rechtsbegriff begegnet, dann müssen sie das Grundgesetz bemühen, um den Begriff auszulegen. Aber um das mal für alle zu veranschaulichen (sonst könnten wir das bei der Abstraktheit auch per PN machen), hier ein Beispiel:
Es ist möglich, eine Einwilligung in Körperverletzungen zu erteilen (§ 228 StGB), sofern diese nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Nun: Was heißt "gute Sitten"? Bemüht man das Grundgesetz, dann ist da von der Würde des Menschen (Art. 1 I GG) und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) die Rede. Das allein zu wissen, reicht jedoch für die Bestimmung des Begriffes "gute Sitten" nicht aus, denn zum einen ist der Begriff "Würde" selbst sehr unbestimmt und das Wissen um das Recht auf körperliche Unversehrtheit hilft auch nicht wirklich weiter, denn es ist schon aufgrund des Verhaltensverbots "Verletze nicht!" aus dem Körperverletzungstatbestand ersichtlich, dass dieses geschützt wird, wir aber bei der Einwilligung in die Körperverletzung gerade wissen wollen, wo (!) die Grenzen liegen. Wenn beides nicht wirklich weiterhilft, wie soll dann das Grundgesetz "gute Sitten" näher bestimmen? Durch Auslegung des Wortes "Würde"? Womöglich. Worauf ich hinaus will: Klar, es ist eine wunderschöne Vorstellung, dass unsere Gesetze alle eindeutig sind und wo sie unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten entsprechend der Verfassung ausgelegt werden. Praktisch wird aber immer ein großer Teil der Entscheidungen der Gerichte über diese Rechtsbegriffe politisch und von subjektiven Vorstellungen geprägt sein. Das muss jedoch nicht unbedingt schlecht sein, es sprechen auch Argumente dafür, es ganz bewusst so zu machen. So gibt es in den USA eine nicht unbedeutende Anzahl von Rechtswissenschaftlern, die die Verfassungsauslegung "value/morals based" betreiben, also auf Wertvorstellungen der Gesellschaft Rücksicht nehmen. Sie bedienen sich also ganz gezielt außerverfassungsrechtlicher Wertungen.
Und genau das zuletzt Geschilderte ist mein zweites Argument, um von einer Bindung der Bürger ans GG nicht sprechen zu können, auch wenn ein Einfluss des Grundgesetzes notwendigerweise besteht, mag er praktisch jedoch nicht ganz so bedeutend sein, wie Rechtspositivisten, die sich nur auf den Wortlaut des positivierten (vom Normgeber gesetzten) Rechts bei der Auslegung beziehen wollen, das gerne hätten.
Zu 2.: Sicherlich war meine Aussage des "höchsten Gerichts" genau genommen nicht korrekt, jedoch habe ich das der Vereinfachung halber mal so hingestellt. Meine Begründung, warum diese Vereinfachung in gewisser Weise gerechtfertigt ist:
- Das BVerfG ist nur für Verfassungsangelegenheiten zuständig. Es überprüft also beispielsweise nicht, ob die anderen Gerichte richtig unter das Merkmal "Sache" subsumiert haben (geguckt haben, ob zum Beispiel ein Auto eine Sache im Sinne des Gesetzes ist). Was sie prüfen, sind aber auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe. Und darunter fallen nicht nur Begriffe wie "gute Sitten", sondern auch "beleidigen", da eine Verurteilung aufgrund der Beleidigung jedenfalls in die Meinungsfreiheit eingreift und hier auch eine verfassungsmäßige Wertung mit hineinspielt. So ist es beispielsweise eben auch im Fall Böhmermann. Sollte dessen Fall zum BVerfG kommen, werden die Richter "beleidigen" verfassungskonform auszulegen versuchen und dabei Wertungen der Kunstfreiheit und des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht berücksichtige (und dann am Ende die oben erwähnte praktische Konkordanz herstellen). So ist es aber in vielen Fällen. Eine Urteilsverfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ist somit in vielen Fällen möglich. Und wenn das BVerfG bei so vielen Fällen entscheiden muss, dann hat es zwar nur mittelbaren Einfluss aufs Nicht-Verfassungsrecht, aber ein Einfluss besteht zumindest.
- Darüber hinaus kommt eben nach dem Bundesverfassungsgericht kein Gericht mehr, welches in Deutschland unmittelbar rechtskräftige Urteile fällen könnte. Und wie eben gesagt: Wenn am BGH etwas entschieden wird, dann können die Parteien, sofern für die Entscheidung auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe erheblich waren, mit einer Urteilsverfassungsbeschwerde das BVerfG auf den Plan rufen, welches die Verfassungsmäßigkeit der Entscheidung überprüft. Und hat das BVerfG eine Entscheidung gefällt, kann es das Urteil aufheben und erneut an den BGH zurückverweisen. Man könnte somit vereinfacht sagen, in solchen Fällen stehe das BVerfG tatsächlich über den anderen Gerichten.
Meine Aussage war also faktisch falsch. Dies diente nur der Erklärung, warum ich es vereinfachen wollte.