@Sivaria:
Das ist ein interessanter Einwurf, der Beachtung verdient. Wieso soll ein Richter richten dürfen und der Betroffene es nicht selbst erledigen?
Die Antwort darauf ist vielschichtig, aber keineswegs "lächerlich". Zunächst einmal hat die Antwort nichts mit Bildung, Ausbildung, Erfahrung oder anderen in der Person des Richters liegenden Aspekten zu tun.
Es gibt Richter, die bewußt keine juristische Bildung haben sollen (im angelsächsichen Rechtsraum die Geschworenen, in Deutschland die Schöffen etc. - dies sind Richter im Sinne dessen, dass sie die Entscheidung in einer Rechtssache fällen).
Auch in der Rechtsgeschichte war es früher so, dass die Richter (im Sinne der Entscheider) bewußt Nichtjuristen waren, die sich lediglich von Juristen hinsichtlich Verfahrens- und Rechtsfragen beraten ließen. (So das Modell in der Frühen Neuzeit).
Der professionell gebildete Richter deutscher Prägung entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert in Preußen.
Unabhängig davon, welche ART Richter man hat, so hat er gegenüber der Selbstjustiz mehrere Vorteile:
(a) Neutralität
Der Richter, der nicht Betroffener ist, besitzt gegenüber der Tat einen höheren Grad an Neutralität. Natürlich ist jeder Mensch subjektiv, dennoch kann man von einem nicht Beteiligten eine differenziertere, exaktere Sicht der Dinge erwarten, als dies bei einem Betroffenen möglich wäre.
(b) Akzeptanz
Wenn der Richter durch ein gesellschaftlich nachvollziehbares Verfahren in sein Amt gelangt ist (sei es Wahl, Ernennung etc.), so wird das, was er anordnet von denen, die es betrifft eher akzeptiert. Wenn hingegen jeder irgendwas entscheidet und eigenmächtig durchsetzt, ist das ein Problem.
(c) Systemintegration
Der wichtigste Punkt aber ist, dass in einem modernen Rechtsstaat der (gesetzliche und nichtentziehbare) Richter für ein faires Verfahren zu sorgen hat. Dieses Verfahren muss nach Luhmann geeignet sein, ungeachtet der Komplexität des Systems ein für die Systembetroffenen vorhersehbares Ergebnis und durch Begründung nachvollziehbares Ergebnis erschaffen. Dieses erzeugt das, was Luhmann die Legitimität durch Verfahren nennt. Diese geht jeder Selbstjustiz per se ab.
Nach alledem ist der Richter also aus Effizienz- und Systemgründen berufen, eine Entscheidung zu treffen.
Die negativen Folgen eines fehlenden Gerichtssystems lassen sich hervorragend zeigen (und man muss nicht einmal klassische Dramen wie Orestes bemühen, auch wenn sie zeigen, dass das damals schon Thema war; ebensowenig muss man die Geschichte der Lucretia aus dem römischen Rechtsbereich kennen, auch wenn dieser Mythos ähnlich aufschlußreich ist).
Wer aber ein aktuelles Beispiel haben will, der schaue sich die Folgen eines BLUTRACHESYSTEMS an, wie es etwa in Albanien, in Teilen des Kosovo und anderen Balkanregionen noch üblich ist. Dieses System (welches übrigens bereits über BLANKE Selbstjustiz hinaus Gewalt auf gewisse Regeln beschränkt) sorgt für reichlich Witwen, jahrhundertealte Gewalt und Grausamkeit und Angst im alltäglichen Leben.
Bei dieser Alternative ist die Antwort, wer den Richter berechtigt leicht gegeben: wir.